Unser Gastredakteur Martin Nagel, bekannt von Boobs and Bullets, hat uns ein sehr informatives Review zu Left Alive spendiert! Vielen Dank an dieser Stelle für deine tolle Beurteilung.
Left Alive kriegt grad mächtig auf den Deckel. Kaum jemand mag das Spiel. In Japan ist es innerhalb kürzester Zeit schon um 70 % reduziert worden, und angeblich hat Square Enix dort sogar die Share-Funktion auf der PS4 gesperrt. Vornehmlich aus technischen Gründen, aber es geht das Gerücht um es solle verhindert werden, dass sich die Kunde von diesem furchtbaren Spiel weiterverbreitet.
Nun, ich habe mich trotzdem herangewagt. Und ich habe die Tendenz, allgemein gut bewertete Spiele eher kritisch zu sehen, und in verschrienen Games das Gute zu suchen. Wird das ausreichen um auch Left Alive zu mögen? Und ist das Spiel wirklich so schlecht?
Auch Square Enix selbst scheint unter einer Art Identitätskrise zu leiden wenn es um die Platzierung und Vermarktung von Left Alive geht. Wusstest du dass es ein Teil der Front Mission-Serie ist? Also ich ganz lange nicht. Nun ist die Serie im Westen nie so richtig angekommen. Der einzige ernsthafte Versuch war Front Mission 3 auf der ersten Playstation. Dann haben wir noch Front Mission Evolved bekommen, in welchem aber kein großes Risiko steckte. 3D-Shooter mögen die Langnasen. Front Mission 4 und das DS-Remake des Erstlings haben es immerhin noch nach Amerika geschafft, der hochinteressante Rest blieb in Japan.
Trotzdem hat die Serie in Europa eine kleine, aber sehr eingefleischte Fangemeinde – nicht zuletzt unseren CU-Redakteur Micha. Nun hat Left Alive recht wenig Werberummel bekommen, und in dem Wenigen wurden meistens die stylishen Zeichnungen von Yoji Shinkawa gezeigt sowie sein Name erwähnt. Botschaft: „Hey, wir haben den Charakterdesigner von Metal Gear Solid und irgendwas mit Mechs.“ Ein „Hey, wir haben das neue Front Mission!“ wäre den Fans sicherlich lieber gewesen. Mir ist es beim Auspacken der Collector’s Edition schon sauer aufgestoßen dass diese „Mech Edition“ und nicht „Wanzer Edition“ heißt. Auch im Spiel werden immer wieder mal die Begriffe durcheinandergeworfen. Wanzer ist die Abkürzung der herrlich deutschen Wortschöpfung „Wanderung Panzer“ – so etwas können sich auch nur die Japaner ausdenken.
Der erste Eindruck vom Spiel – Na gut, eigentlich ist es der zweite. Der erste Eindruck ist eine enorm lange Ladesequenz. Also, der zweite Eindruck erinnert mich enorm an Metal Gear Solid 4 auf der Playstation 3. Ähnlicher Look, ähnliche Steuerung, ähnlicher Abstand der Kamera zum Spieler – und ein ähnliches Übermaß an Tutorials. Angenehm altmodisch: Es wird von Hand an speziellen Stationen gespeichert. Weniger angenehm: Bekommst du einen Tutorial-Text nachdem du gespeichert hast, so wird er in deinem neuen Leben nochmal angezeigt und muss erneut weggedrückt werden. Die Speicherstationen findest du meist in sicheren Räumen, zusammen mit einer Item-Kiste und einer Heilstation. Letztere lässt sich nur dreimal benutzen, also teile sie dir gut ein. Und du solltest mit mindestens zwei Speicherständen arbeiten. Es ist möglich sich in die Ecke zu speichern.
Das Spiel setzt sehr auf Schleichen und das Sammeln, Bauen und Einsetzen von Items. Nach einem kurzen Anfangs-Schlauch bist du in einer mittelgroßen Weltkarte unterwegs, auf der du dich frei bewegen kannst – naja, solange die feindliche Übermacht es zulässt. Wirst du entdeckt, so bedeutet das meistens den Tod innerhalb von Sekunden – sogar noch schneller wenn du an einen Wanzer gerätst. Sehr viel nerviges Trial and Error mit anschließend von Hand zu ladendem Spielstand ist die Folge. Glücklicherweise sind die Feinde nicht allzu intelligent, aber sie stehen sehr dicht aneinander. Hier kommen die Items ins Spiel. Findest du eine Wodkaflasche, so kannst du sie versaufen und bekommst dadurch einen kurzzeitigen Regenerations-Boost und glasige Augen, dargestellt durch einen fiesen Blur-Effekt. Die leere Flasche kannst du dann werfen um Wachen abzulenken. Oder du versiehst sie mit Stofflappen und hast einen Molotov-Cocktail. Mit dem Stück Stoff kannst du dir aber auch Verbandsmaterial herstellen. Du merkst, in diesem System steckt viel Tiefe.
Die Story zeigt ein sehr düsteres und schonungsloses Bild des Krieges. Ein kleines osteuropäisches Land wurde von einer Übermacht besetzt, Todesschwadronen ziehen durch die Straßen und töten wahllos Zivilisten. Neben der Haupthandlung musst du diese Menschen retten und zu sicheren Bunkern eskortieren. Das ist sehr schwer und geht anfangs meistens schief, da der NPC kaum was aushält und sein Weg frei von Feinden sein muss. Du kannst auch zu spät kommen und das arme Schwein wurde schon erschossen. Abhängig davon wen du rettest und wen nicht, und welche Entscheidungen du während der Story triffst, ergeben sich viele unterschiedliche Handlungsverläufe und Enden – natürlich inklusive eines sehr guten und eines sehr schlechten Endings. Abgesehen von hardcorigen Front Mission-Fans wird aber kaum jemand schnell und reibungslos in die Handlung einsteigen können. Diese seltsamen Zukunftsnationen mit ihren Drei-Buchstaben-Abkürzungen stellen eine hohe Einstiegshürde dar.
Zur Feindortung und Routenplanung dient dir eine tolle Karte, die du aber nur im Pausenbildschirm einblenden darfst. Eine Minimap mit Sichtkegel wie bei Metal Gear Solid gibt es nicht. Beim Einschätzen der Sichtweite der Wachen musst du dich also auf dein Gefühl verlassen. Immerhin warnt dich die Computerstimme deiner Kampf-KI Koshka vor Feinden in der Nähe. Ihre ewig gleichen Sprüche können aber auch schnell nerven.
Damit Left Alive langfristig spannend bleibt wurden ein paar coole Systeme integriert, die das Spiel aber nicht einfacher machen. Hast du einen Bereich von Feinden gesäubert, so sammelt sich anderswo auf der Karte Verstärkung. Auch der Tag- und Nachtwechsel sorgt für Truppenbewegungen. Wenn du beim zocken mit dem Internet verbunden bist, dann findest du an stark bewachten Stellen die Leichen gefallener Online-Kameraden – inklusive besonders wertvoller Beute. Selber in den Wanzer steigen darfst du selten. Dann fühlt es sich aber an wie ein Befreiungsschlag! Endlich nicht mehr klein, endlich es dem übermächtigen Feind heimzahlen!
Es gibt drei Charaktere, die du nacheinander durch die Kapitel der Handlung steuern musst. Mikhail ist ein abgeschossener Wanzer-Pilot, der zu seiner Einheit zurück möchte. Polizistin Olga war zur falschen Zeit am richtigen Ort, und Offizier Leonid hat etwas zu verbergen. Interessant ist, dass die drei sich den Loot in der Spielwelt teilen. Entscheide also weise, ob du Olga die mächtige Schrotflinte aufnehmen lässt – Mikhail schaut dann nämlich in die Röhre. Nutze die aus Resident Evil bekannten Zauberkisten, die ihren Inhalt mit allen drei Protagonisten teilen.
Hauptkritikpunkt an dem Spiel ist die Grafik. Ich finde sie ehrlich gesagt nicht schlimm. Klar, die Innenräume sind recht karg eingerichtet und die Laufanimationen sehen seltsam steif aus. Aber sie bietet ein stimmiges Gesamtbild. Farben, Licht, Größenverhältnisse und Effekte – das alles passt und wirkt wie aus einem Guss. Und die Mechs – pardon, Wanzer sehen hochdetailliert und richtig beeindruckend aus. Wenn du genau hinschaust kannst du an ihnen sogar bekannte Waffen und Bauteile erkennen.
Und das Spiel ist schwer! Nicht knackig-herausfordernd im Marketingdeutsch, sondern richtig verflucht schwer! Ich finde es sogar deutlich schwerer als die Dark Souls-Reihe, wenn mir dieser vielzitierte Vergleich gestattet ist. Bei Dark Souls kannst du grinden, hier nicht. Bei Dark Souls kannst du Abläufe und Bewegungen im Level auswendiglernen, hier nur bis zu einem gewissen Maß. Und nicht zuletzt hat Dark Souls ein wesentlich intuitiveres und spielerfreundlicheres Item-System.
Das ist für mich auch der einzige Kritikpunkt, der über bloßes „Mimimi das Spiel ist so schwer und ich bin so schlecht“-Gemecker hinausgeht. Das Item-System ist schlecht durchdacht und nicht ausgereift. Du hast drei verschiedene Inventare, die du durch Druck auf links, rechts und unten auf dem Steuerkreuz aufrufen kannst (oben schaltet die Taschenlampe ein und aus). Dann musst du mit dem Analogstick eines von ca. acht Items auswählen. Währenddessen läuft die Zeit weiter. Mitten im Kampf noch die Ausrüstung zu wechseln ist nahezu unmöglich. Hier wünsche ich mir von Square-Enix umfangreiche Patches. Eine spielerfreundlichere Itemverwaltung, und vielleicht noch einen Super Easy-Schwierigkeitsgrad für Noobs wie mich.
Left Alive hat mich am Ende doch positiv überrascht. Den derzeit tobenden Shitstorm hat es keinesfalls verdient. Es ist sehr ambitioniert und ich merke, dass jemand bei der Entwicklung eine starke Vision verfolgt hat. Was jedoch gefehlt hätte ist Feintuning, und etwas mehr Vertrauen seitens des Publishers. So hoffe ich, dass kommende Zockergenerationen das Spiel wenigstens als Hidden Gem entdecken werden. Das Spiel ist manchmal angenehm, manchmal unangenehm altmodisch, und jeder Erfolg muss hart erarbeitet werden. Damit passt es nicht in unsere Zeit der ewig gleichen, glattgebügelten Triple A-Erfahrungen. Hoffentlich ergeht es Left Alive ähnlich wie der Tenchu-Serie. Dort sind Grafik, Kamera und Kampfsystem fürchterlich. Wer sich aber durchbeißt wird mit einem sehr deepen Schleich-Erlebnis belohnt. Und dementsprechend hat Tenchu auch seine harten Fans. Dieses Klassiker-Potential sehe ich auch bei Left Alive. Trotz und gerade weil das Spiel es dir nicht leicht macht.
Und: Ich habe beim Zocken das starke Gefühl dass ich die Blaupause zu Death Stranding spiele. Death Stranding wird mehr Grafik, Norman Reedus und eine maximal schwurbelige Kojima-Story haben, und deswegen wird es alle Welt feiern. Spielerisch werden sich die beiden aber sehr ähnlich sein. Mark my Words!
Left Alive
Wertung: 6,5/10
Publisher: Square Enix
Entwickler: Square Enix
Plattform: PS4 (getestet), PC (Steam)
Preis: 59,99 €
Das Rezensions-Exemplar wurde selbst gekauft. Alle Screenshots wurden selbst angefertigt und stammen von der PS4-Version.
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